10. Juni 2017 · Medizinrecht

Vertragsarzt obliegt Vermögensbetreuungspflicht gegenüber Krankenkasse

Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte mit Beschluss vom 16.08.2016 (4 StR 163/16) über die Strafbarkeit eines Vertragsarztes  wegen Untreue nach § 266 StGB zu entscheiden, weil die Ausstellung von Rezepten  für Heilmittel  (§ 32 SGB V) trotz fehlender medizinischer Indikation erfolgte (sog. Luftrezepte).  In dieser Entscheidung bestätigte der BGH, dass dem Vertragsarzt gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse eine Vermögensbetreuungspflicht obliege.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Angeklagte ist als sog. Kassenarzt zu vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. In den Jahren 2005-2008 erstellte er in insgesamt 479 Fällen Heilmittelverordnungen für physiotherapeutische Leistungen, obwohl diese medizinisch nicht indiziert waren. Davon wusste der Angeklagte, er hatte die „Patienten“ schließlich auch nie untersucht oder anderweitig konsultiert.  Er wusste auch, dass seine Verordnungen in keinem der Fälle eingelöst worden waren und trotzdem bei den jeweiligen Krankenkassen eingereicht und abgerechnet worden sind.

Das Gericht der ersten Instanz (LG Halle) hat den Angeklagten mit Urteil vom 09.11.2015 wegen Untreue in 479 Fällen in Tateinheit mit Beihilfe zum Betrug in 217 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und deren Vollstreckung auf Bewährung ausgesetzt.

Die Revision des Angeklagten hatte nur hinsichtlich der Verurteilung wegen tateinheitlich begangener Beihilfe zum Betrug in 217 Fällen Erfolg.

Der BGH bejahte eine Vermögensbetreuungspflicht eines Vertragsarztes gegenüber den Krankenkassen und bejahte den Missbrauchstatbestand des § 266 Abs. 1 Alt. 1 StGB aus den folgenden Gründen:

Die Vermögensbetreuungspflicht, so der BGH, setze eine Beziehung des Arztes zur (potentiell) geschädigten Krankenkasse voraus, die eine besondere Verantwortung für deren materielle Güter mit sich bringe. Den Täter müsse eine inhaltlich herausgehobene Pflicht zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen treffen, die über für jedermann geltende Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflichten und insbesondere über die allgemeine Pflicht, auf die Vermögensinteressen des Vertragspartners Rücksicht zu nehmen, hinausgehe. Dem Täter müsse also die Vermögensbetreuung als Hauptpflicht obliegen, in derer er gleichzeitig eigenverantwortlich und selbstständig Handeln könne.

Der BGH stützt seine Argumentation bei der Bejahung einer solchen Hauptpflicht überwiegend auf das sozialgesetzliche Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 12 Abs. 1 SGB V. Ein Vertragsarzt stelle mit einer Heilmittelverordnung gegenüber der Krankenkasse nämlich verbindlich fest, dass die medizinischen Voraussetzungen gegeben seien und dass das verordnete Heilmittel nach Art und Umfang geeignet, ausreichend, notwendig und wirtschaftlich sei. Die Verordnung konkretisiere den gesetzlichen Leistungsanspruch des Versicherten auf Sachleistungen (vgl. § 2 Abs, 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 SGB V).  Obwohl zwischen dem Arzt und der Krankenkasse keine unmittelbare Vertragsbeziehung bestünde, besitze der Vertragsarzt eine besondere Verantwortung gegenüber dem Vermögen der Krankenkasse.

Das sozialgesetzliche Wirtschaftlichkeitsgebot begründe daher nicht lediglich eine unter- oder nachgeordnete Pflicht zur Rücksichtnahme auf das Vermögen der Krankenkassen sondern vielmehr eine Hauptpflicht. Das Wirtschaftlichkeitsgebot sei Grundlage für das auf Vertrauen gestützte Abrechnungssystem. Es solle die bestmögliche Nutzung der vorhandenen Ressourcen sicherstellen. Bei der Wahrung des Wirtschaftlichkeitsgebotes gehe es um den Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter, nämlich die Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung.

Unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG NJW 2001, 1779) bezeichnet der BGH den Vertragsarzt als „Sachwalter der Kassenfinanzen insgesamt“.

Der Annahme einer Hauptpflicht stehe nicht entgegen, dass die Grundpflicht des Arztes auf das Patienteninteresse gerichtet sei. Vielmehr könne das Wirtschaftlichkeitsgebot neben das Patienteninteresse als Hauptpflicht hinzutreten. Das Recht, einen freien Beruf auszuüben, sei hierdurch nicht in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt.

Auch aus der Pflicht des Heilmittelerbringers, die Verordnung des Vertragsarztes dem Inhalt nach zu überprüfen, könne sich keine andere Bewertung ergeben. Denn dies ändere nichts daran, dass alleine der Arzt (und gerade nicht der Leistungserbringer) über die Verordnung und deren Wirtschaftlichkeit entscheide, sie ändern oder ergänzen könne oder eine neue Verordnung ausstellen könne.

Schließlich stehe der Annahme einer Hauptpflicht des Arztes auch nicht entgegen, dass die Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigung die Verordnungen überprüfen könnten. Zwar würden die Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigung die Wirtschaftlichkeit von Heil- oder Arzneimittelverordnungen überwachen (vgl. § 106 Abs. 1 und Abs. 4 SGB V); allerdings seien diese auf die in § 106a Abs. 3 S. 4 SGB V geregelten Befugnisse beschränkt und könnten nicht in eigener Verantwortung darüber entscheiden, ob eine Verordnung unwirtschaftlich, nicht erforderlich oder unzweckmäßig sei.

Die vorinstanzlich als Beihilfe zum Betrug bewertete Taten qualifizierte der BGH dagegen als mitbestrafte Nachtaten.